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Physiotherapeutische Verfahren beim Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom

[erstellt 28/Nov/2008] [aktualisiert 24/Mrz/2010]

Frage

Bietet das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) Indikationen für eine Verordnung von physiotherapeutische Verfahren? Und welche physiotherapeutischen Maßnahmen können bei ADHS-Betroffenen wirksam eingesetzt werden?

Hintergrund

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bezeichnet einen Komplex von Symptomen, der sich durch drei Grundmuster auszeichnet. Zu diesen Mustern zählen [1: 5]:

Das Manifestationsalter liegt zumeist vor dem vollendeten sechsten Lebensjahr und stellt einen wichtigen Indikator für die schwierige Diagnosestellung dar. Jungen sind sehr viel häufiger von ADHS als Mädchen betroffen.

Antwort

Die Bundesärztekammer (BÄK) empfiehlt für die Behandlung eines zweifelsfrei diagnostizierten ADHS einen kombinierten Therapieansatz bestehend aus psychoedukativen und psychotherapeutischen Maßnahmen sowie einer medikamentösen Therapie [1: 25]. Ein manifestes ADHS wird in 80% der Fälle von einer Begleiterkrankung oder mehreren Komorbiditäten begleitet. Zu diesen gehören insbesondere ein gestörtes Sozialverhalten, umschriebene Entwicklungsstörungen, Tics, Intelligenzminderungen wie u.a. auch Lernstörungen, affektive Störungen, Angst- sowie Persönlichkeitsstörungen [1: 15, 46]. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller an der Verlaufskontrolle und Therapie Beteiligten (Eltern, Lehrer/-innen, Erzieher/-innen, Psychotherapeuten/-innen) bezieht auch die Beteiligung medizinisch-therapeutischer Berufsgruppen ein. Eine explizite Empfehlung für den Einbezug von Maßnahmen aus dem physiotherapeutischen Leistungsbereich macht die BÄK allerdings nicht.

Eine auf einem nach evidenzbasierten Kriterien geringen Entwicklungsstand vorliegende Leitlinie (S1-LL) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie aus 2007 verweist im Zusammenhang von mit ADHS ggf. auftretenden Komorbiditäten auf die Möglichkeit für „Übungsbehandlungen zur Verminderung von umschriebenen Entwicklungsstörungen (Teilleistungsschwächen)“ [2: 245]. In der Leitlinie wird der Hinweis gegeben, dass Krankengymnastik, neben anderen Therapieformen wie Moto- oder Ergotherapie und Psychomotorik, derzeit aufgrund fehlender Wirksamkeitsnachweise nicht zu einer alleinigen Behandlung der hyperkinetischen Kernsymptomatik angezeigt ist.

Der Heilmittelkatalog, der alle von Physiotherapeuten zu Lasten der Krankenkassen abrechenbaren Leistungen enthält, sieht ebenfalls ein manifestes ADHS nicht als explizite Indikation für die Verordnung physiotherapeutischer Leistungen vor.

In einer Leitlinie des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) finden sich keine expliziten Empfehlungen zur Verordnung physiotherapeutischer Leistungen bei manifestem ADHS [3]. Die Leitlinienentwickler weisen aber darauf hin, dass Maßnahmen der physikalischen Therapie wie etwa Relaxationstechniken regelmäßig Bestandteile in der multidisziplinären Versorgung von ADHS-Betroffenen sind. In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie wird darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit von Entspannungsverfahren (inkl. autogenem Training) bei der Behandlung der hyperkinetischen Kernsymptomatik nicht hinreichend belegt sei und als entbehrliche Therapiemaßnahme hervorgehoben [2: 253].

Die Literaturrecherche in den Datenbanken Cochrane Library, CRD, PEDro, EMBASE/MEDLINE ergab, dass die Studienlage für eine Beweisführung der Wirksamkeit physiotherapeutischer Interventionen bei ADHS äußerst beschränkt ist. Die durchgeführten Studien haben überwiegend kleine Studienpopulationen, kurze Laufzeiten oder es werden Fälle bzw. Fallserien beschrieben (Fallstudien), die nicht verallgemeinerbar sind. Um die Problematik des angemessenen Forschungsdesigns darstellen zu können, werden im Folgenden zwei Veröffentlichungen kurz vorgestellt, die sich einem Wirksamkeitsnachweis von Verfahren und Maßnahmen aus dem physiotherapeutischen Leistungsbereich im Zusammenhang mit der Kernsymptomatik bzw. Komorbiditäten bei ADHS widmen. Die Ergebnisse müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da beide Studien erhebliche methodische Mängel und kurze Behandlungszeiträume aufweisen.

Eine israelische Studie [4] hat die Wirkung physiotherapeutischer Behandlungstechniken auf eine Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung (Developmental Coordination Disorder, DCD) untersucht, die sehr häufig zusammen mit einem ADHS auftritt. 28 Kinder mit ADHS/DCD im Alter von sechs bis zwölf Jahren (9,3 Jahre im Durchschnitt) wurden zufällig auf eine Experimental- und Kontrollgruppe verteilt (weiblich: 2, männlich: 12 in jeder Gruppe). Die Kontrollgruppe erhielt keine Intervention. In der Experimentalgruppe wurde unter Anleitung eines Physiotherapeuten mit je vier bis fünf Kindern in einer Gruppe ein physiotherapeutischer Behandlungsansatz aus motorischem Training, sensorischer Integrationstherapie, kinästhetischem Training zweimal pro Woche für jeweils eine Stunde durchgeführt. Die Kinder und ihre Eltern wurden zur Weiterführung der Übungen in einem Heimübungsprogramm instruiert. Die gesamte Studiendauer betrug vier Wochen und wurde während der Sommerferien durchgeführt, zu einer Zeitphase, in der andere Interventionsprogramme nach der Schule (bspw. Sprach- und Ergotherapie) nicht stattfanden. Die Messungen des Motoriktests Movement Assessment Battery for Children (M-ABC, hier M-ABC 2 und M-ABC 3) zeigten statistisch signifikante Verbesserungen der fein- und grobmotorischen Koordinationsfähigkeiten in der Experimentalgruppe. Die Ergebnisse waren im Vergleich mit der Kontrollgruppe zugunsten der Kinder mit intensiven physiotherapeutischen Maßnahmen statistisch signifikant unterschiedlich.

Den Effekt von Massage auf verhaltensrelevante, emotionale und physiologische Ergebnisparameter (Cortisolgehalt des Speichels als Zeichen des Stressabbaus) bei 30 von ADHS betroffenen Kindern und Jugendlichen (Altersdurchschnitt: 13 Jahre; männlich: 80%, weiblich: 20%) hat Khilnani et al. in einem US-amerikanischen Setting untersucht [5]. Die Teilnehmenden der Therapiegruppe erhielten über einen Zeitraum von vier Wochen zweimal wöchentlich eine Ganzkörpermassage (über der Kleidung) von je 20 Minuten Dauer; die Teilnehmenden der Kontrollgruppe wurden auf eine Warteliste gesetzt. Die Vorher-Nachher-Messungen in diesem quasi-experimentellen Studiendesign zeigten nach dem vierwöchigen Untersuchungszeitraum statistisch signifikante positive Effekte zugunsten der Therapiegruppe mit Massage hinsichtlich der Endpunkte Verbesserung des emotionales Befinden, geringeres Niveau an Hyperaktivität, Abbau von Ängstlichkeit und Unaufmerksamkeit, jedoch keine Effekte auf die Cortisolspiegel. Khilnani et al. verfolgten den durch die Massagetherapie erzielten Behandlungserfolg nicht über den Untersuchungszeitraum von vier Wochen hinaus, so dass Aussagen über die Nachhaltigkeit dieser Effekte nicht getroffen werden können.

Zusammenfassend wird festgehalten, dass ADHS mit einer psychoemotionalen Kernsymptomatik keine primäre Indikation für die Verordnung physiotherapeutischer Leistungen darstellt. Ein ADHS wird aber häufig von Komorbiditäten begleitet, die Indikationen für die multiprofessionelle Versorgung auch mit Maßnahmen aus dem physiotherapeutischen Leistungsspektrum darstellen können.

Literatur

  1. Bundesärztekammer (BÄK): Stellungnahme zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – Langfassung. BÄK: Berlin 2005. Abrufbar unter: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/ADHSLang.pdf (Zugriff: 24.03.2010).
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a.: Hyperkinetische Störungen (F90). In: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, Deutscher Ärzte-Verlag: Köln 2007, 239-254.
  3. National Institute for Health and Clinical Excellence: Attention deficit hyperactivity disorder. Diagnosis and Management of ADHD in children, young people and adults. National Clinical Practice Guideline Number 72. NICE: London 2008. Abrufbar unter: http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/CG72FullGuideline.pdf (Zugriff: 24.03.2010).
  4. Watemberg N.; Waiserberg N.; Zuk L.; Lerman-Sagie T.: Developmental coordination disorder in children with attention-deficit-hyperactivity disorder and physical therapy intervention. Developmental Medicine and Child Neurology 2007, 49 (12): 920-925.
  5. Khilnani S.; Field T.; Hernandez-Reif M.; Schanberg S.: Massage Therapy Improves Mood and Behavior of Students with Attention-Deficit/hyperactivity Disorder. Adolescence 2003, 38 (152): 623-638.

Suchanfrage in Datenbanken/Informationsquellen

Cochrane Library, Center for Reviews and Dissemination (CRD), Physiotherapy Evidence Database (PEDro), EMBASE/MEDLINE, Bundesärztekammer (BÄK), Arbeitsgemeinschaft der Medizinischen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF), National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)

Verwendete Suchbergriffe

attention deficit disorder, hyperactivity, physiotherapy, physical therapy modalities/specialty

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http://www.findax.de/downloads/physiotherapie-adhs.pdf

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